IN ERINNERUNG AN DEN 8. MAI 1945
WO DAS DRITTE REICH WIRKLICH ENDETE: MEINE ERINNERUNG AN 1945

Von Hermann Strasser

 
 

Auch wenn in meinem Heimatort Altenmarkt im Pongau im Salzburger Land und Umgebung keine Bomben fielen, wir auch keine Luftschutzapotheke im Haus brauchten, war das Geräusch der Flugzeuge, die in Richtung Wien flogen, dennoch furchterregend. Es war von viel pompösem Gerede der Parteioberen und hasserfüllten Beschimpfungen der Angreifer durch Bewohner und Parteigenossen begleitet. Daran beteiligten sich die „ehrlichen Nazis“ ebenso wie die „fanatischen Nazis“. Allerdings mussten sich auch in Altenmarkt viele Familien mit der traurigen Erkenntnis abfinden, dass in Friedenszeiten die Söhne ihre Väter, aber in Kriegszeiten die Väter ihre Söhne beerdigten.

Angst verbreitete sich auch, als der Volkssturm in den letzten Monaten des Krieges organisiert wurde. Er entpuppte sich als Kern der zwangsmobilisierten Gesellschaft im Zustand des „Nochnicht“. Er bestand vor allem aus älteren Männern, die entweder aus dem Krieg schon heimgekehrt oder zu militärischen Einsätzen nicht (mehr) tauglich waren. Diese Einsatzkräfte sollten das Ennstal östlich von Altenmarkt bis Mandling an der Grenze zur Steiermark, aber nicht nur dort, durch Panzersperren abriegeln, indem sie Baumstämme in den Boden rammten. Die Alliierten, vor allem die amerikanischen Truppen, drangen nämlich vom Süden über Italien und über Bayern vom Westen her vor, denn General Eisenhower hatte aus Angst vor dem letzten Gefecht in der „Alpenfestung“ die Strategie geändert.

Meine Erinnerung
Davon schwante auch meinem Vater, der wegen seines Asthmaleidens seit Mitte 1943 wieder zu Hause war und im März 1945 vom früheren Ortsgruppenleiter der NSDAP, Martin Weitgasser, zum Volkssturm rekrutiert werden sollte. Dem gingen bereits entsprechende Appelle auf Grund der Verkündung des „totalen Krieges“ 1943 voraus. Im Herbst 1944 wurde den örtlichen Parteiführungen der Auftrag erteilt, den Volkssturm zu organisieren, ganze Schulklassen mussten auf Bauernhöfen die Erdäpfel einsammeln, und Bauernkinder wurden zur Mitarbeit am Hof von der Schule befreit.

Am 31. März, Karsamstag, gab es in Altenmarkt einen Probealarm unter dem Motto „Die Russen kommen“. Es läuteten die Kirchenglocken, und der Befehl zum Ausrücken des Volkssturms machte die Runde. Wer nicht kam, wurde mit dem Tode bedroht. In diesem März überquerten bereits die U.S.-Truppen bei Remagen den Rhein, die Briten bei Wesel, während die Rote Armee bereits an der Oder und vor Wien stand. In den Konzentrationslagern und überall dort, wo Menschen ihre Heimat vor der Zerstörung retten wollten, ermordeten die Häscher der SS ihre Gegner. Am 13. April besetzten sowjetische Truppen Wien und am 27. April gab es bereits eine provisorische Regierung.

Und hier beginnt meine Erinnerung an das Kriegsende, als Martin Weitgasser an einem der Märztage 1945 zu uns in die Bahnhofsrestauration kam und meinen Vater vor die Tür bat. Mein Vater nahm mich an die Hand, denn er schien etwas zu ahnen, und ging mit mir vor die Haustür.

Nachdem er meinem Vater erklärte, worum es ging, lehnte mein Vater den Befehl des Volkssturmführers unwirsch ab, obwohl er wusste, dass das nicht ohne Risiko war. Darauf reagierte dieser mit der Feststellung: „Dann muss ich dich standrechtlich erschießen.“ Diese Begegnung ist mir zeitlebens nicht aus dem Kopf gegangen, auch wenn ich damals erst dreieinhalb Jahre alt war.

Vielleicht hoffte mein Vater, und ich bin mir dessen ziemlich sicher, dass der Volkssturmführer ein Einsehen haben oder Nachsicht üben würde, zumal mein Vater mich an der Hand hielt und wir an der Eingangstür zur elterlichen Gastwirtschaft nicht unbeobachtet standen. Tatsächlich ließ Martin Weitgasser seine Drohung nicht wahr werden und verließ nach einer kurzen Phase des Schweigens den Ort der Auseinandersetzung mit finsterer Miene, aber unverrichteter Dinge.

Mein Vater ging zurück in die Sitzküche, während er gegen die nationale Vollberauschung wetterte und über den Organisator des Volkssturms – ein im Nachkriegs-Altenmarkt angesehener Bürger und erfolgreicher Unternehmer – schimpfte. Es dauerte noch Jahre, bis er aufhörte, diese Geschichte mir zu erzählen, obwohl, nein: weil ich dabei war.

Hermann oder was?
Ich wurde 1941 zwar als Österreicher geboren, aber die Staatsbürgerschaft war deutsch, reichsdeutsch, denn Österreich war Teil des Deutschen Reiches geworden, das fortan Großdeutschland heißen sollte. Vielleicht haben sich meine Eltern deshalb von der Mär von Hermann oder Arminius, dem Cherusker-Fürsten, beeindrucken lassen, weil er den Römern die Grenzen aufzeigte und sie sogar militärisch besiegte. Sie tobten sich auf Eroberungs- und Raubzügen über die Alpen, auch an Altenmarkt vorbeiziehend, bis an die Nord- und Ostsee aus.
Ob Hermann Göring bei der Namensfindung eine Rolle spielte, wage ich zu bezweifeln, obwohl er mehrmals in Altenmarkt vorbeikam – auf dem Weg über die Radstädter Tauern nach oder von Mauterndorf, wo er von 1939 bis 1945 stolzer Besitzer der dortigen Burg war und seine Schwestern Olga und Paula mit österreichischen Rechtsanwälten verheiratet waren. „Die Burg seiner Jugend“, wie er sie nannte, wurde ihm von der 1939 verstorbenen Witwe seines Patenonkels und „Ziehvaters“, Dr. Hermann Epenstein, geschenkt.

Die Epensteins waren jüdischer Herkunft, aber deutsch-national eingestellt und mit den Eltern Görings befreundet. Bei ihnen fand Göring 1923 nach dem misslungenen Hitler-Putsch Zuflucht. Görings Mutter Franziska, die allerdings schon im August 1923 starb, hatte ein Verhältnis mit Hermann Epenstein, das so weit ging, wie der Schriftsteller Arno Gruen in Der Fremde in uns schildert, dass der Vater Ernst Heinrich Göring bei Besuchen woanders untergebracht wurde, während sie bei Hermann Epenstein wohnte.

Ich frage mich noch heute, welchen Einfluss dieses Verhältnis nicht nur auf den jungen Hermann Göring hatte. Immerhin wurde er 1938 Hitlers „Beauftragter zur Regelung der Judenfrage“, war für die Einrichtung der ersten Konzentrationslager verantwortlich und beauftragte 1941 Reinhard Heydrich, den Chef der Sicherheitspolizei, mit der Organisation der so genannten „Endlösung der Judenfrage“. Allerdings schützte er die Epensteins, so wie sein Bruder Albert, der viele Juden, darunter auch Hans Moser und Franz Lehar, vor dem KZ rettete.

Und dann treffe ich die Geliebte von Göring
Wie mir Marianne Mauser erzählte, die Schwester meiner späteren Zimmerwirtin in Innsbruck, wo ich in den 1960er Jahren an der Universität studierte, gingen die Epensteins mit den Görings im Gasthaus ihrer Eltern in Mauterndorf ein und aus. Das tat offenbar auch Hermann Göring, nicht zuletzt weil Marianne so hübsch war, vor allem in seinem langen Fronturlaub im Sommer 1916, den er in Mauterndorf verbrachte, um sich von einer Kriegsverletzung zu erholen. Hermann und Marianne verliebten sich; es war auch von Verlobung die Rede.

Aber geheiratet wurde nicht, weil Vater Mauser in Göring nur einen Jagdflieger und sonst nichts sah. Göring, als Luftwaffenoffizier immerhin vom Kaiser mit dem Orden „Pour le Mérite“ ausgezeichnet, flog dann nach Schweden, wo er sich in seine Carin und spätere Frau verliebte, die für ihn Mann und zwei Kinder verließ, allerdings schon 1931 an Herzschwäche starb. Marianne sah ihren Hermann auch dann noch das eine oder andere Mal, sei es offiziell in Berlin oder inoffiziell im Hotel Wisenegg in Obertauern, auch wenn Göring seine Briefe an Carin mit „Dein dankbarer und treuer Hermann“ unterzeichnete.

Endstation Altenmarkt im Pongau
Schließlich wurde Altenmarkt zu Görings Endstation, wie sein Neffe, aber auch Paula Hueber, seine Schwester, später berichteten, denn der Reichsmarschall residierte seit April 1945 auf Wunsch Hitlers, der sich inzwischen in die Betonhöhle des Führerbunkers in Berlin sieben Meter unter der Erde zurückgezogen hatte, am Obersalzberg bei Berchtesgaden, am zweiten Regierungssitz der Nazis. Göring, der schon 1939 aus Anlass des Krieges gegen die Sowjetunion von Hitler offiziell zu seinem Nachfolger bestimmt worden war, sollte die Regierungsgeschäfte übernehmen, falls der Führer sie in Berlin nicht mehr ausführen konnte.
In der Ortschronik Altenmarkt i. Pg. von 1996 führen dazu Franz Walchhofer und Gottfried Steinbacher aus: „Ende April 1945 kam General Koller nach Obersalzberg und informierte Göring darüber, daß Hitler in Berlin eingeschlossen sei und er die Regierung übernehmen solle... Sicherheitshalber fragte Göring über Funk in der Reichskanzlei an, ob dies zutreffe, mit der Bitte um baldige weitere Weisungen. Dieser Funkspruch wurde von Martin Bormann als Ultimatum interpretiert und veranlaßte Hitler, Göring des Hochverrates zu bezichtigen.“ Es waren seine letzten Tage am Obersalzberg, denn er wurde daraufhin verhaftet und nach Mauterndorf überstellt.

Anfang Mai traf Göring in Mauterndorf ein und versuchte, wie die Ortschronik weiter berichtet, „in diesen letzten Kriegstagen mit General Eisenhower Verbindung aufzunehmen. Am 7. Mai begab er sich mit seinem Troß auf die Fahrt nach Schloss Fischhorn. Auf der Fahrt dorthin wurde er in Altenmarkt von den Amerikanern festgenommen.“
Natürlich fuhr Göring nicht unbeobachtet durch die Gegend, auch nicht durch Altenmarkt, denn vom Hirschberggut aus sahen nicht nur vier Arbeitsmaiden des inzwischen aufgelösten Lagers des Reichsarbeitsdienstes (RAD) beim Gschwendthofgut, sondern auch der zwölfjährige Sepp Scharfetter und die Bittersam-Buben Franz und Matthias die Kolonne mit sieben Luftwaffenfahrzeugen und Standarte plötzlich auf der Wagrainer Straße anhalten. Die Mädchen konnten sich nicht zurückhalten und schrien, wie die Ortschronik unter Berufung auf Zeitzeugen berichtet und mir Sepp Scharfetter in einem Interview 2013 bestätigte: „Unser Hermann, schau, unser Hermann!“

Göring, so heißt es dort weiter, sei mit zwei Adjutanten ausgestiegen und auf die von Westen her anrollenden zwei Militärfahrzeuge der Amerikaner unter Leitung des texanischen Brigadegenerals Robert J. Stack zugegangen. Nach einem Gespräch mit den Offizieren „sah man Hermann Göring und seine Adjutanten in die amerikanische Militärlimousine einsteigen“. Dann seien sie abgefahren, ebenso die Fahrzeuge der Luftwaffe, jetzt gefolgt vom Jeep mit dem aufgebauten Maschinengewehr der Amis.

Die Gefangennahme Görings, des designierten Nachfolgers des Führers, wie den Aussagen von Zeitzeugen in den Salzburger Nachrichten vom 9. Mai 1995 und Walter Kempowskis „Echolot“-Projekt zu entnehmen ist, wurde damit in Altenmarkt besiegelt und nicht, wie es offiziell immer wieder geheißen hat, auf Schloss Fischhorn bei Zell am See. Diese Schlussfolgerung stimmt übrigens auch mit den Tagebucheintragungen des Chefs des Generalstabs der Luftwaffe, Karl Koller, und den Recherchen von David Irving über Göring überein.

Die Endlösung: Dönitz oder Göring?
Es stellt sich daher die Frage, ob nicht auch das Ende des Dritten Reiches in Altenmarkt besiegelt worden sei. Wenn da nicht Großadmiral Karl Dönitz, die treibende Kraft der deutschen Kriegsmarine, gewesen wäre, dessen Flensburger Kabinett die Reichsregierung nach Hitlers Selbstmord am 30. April vom 2. bis 23. Mai 1945 übernommen hatte. Über das politische Testament Hitlers, in dem er Dönitz zu seinem Nachfolger als Reichspräsident erklärte, und die daraus abgeleitete Rechtmäßigkeit dieser Regierung des Deutschen Reiches streiten sich noch heute die Juristen. Dönitz beauftragte nämlich Generaloberst Alfred Jodl, den Chef des Wehrmachtführungsstabes, per Funk, die bedingungslose Kapitulation der deutschen Truppen zu unterzeichnen, auch wenn Jodl nur zum „Abschluss eines Waffenstillstandsabkommens mit dem Hauptquartier des Generals Eisenhower“ bevollmächtigt war. Wie Katja Gerhartz in ihrem „Protokoll der letzten Momente“ schreibt, geschah dies am 7. Mai 1945 in der Zeit von 2 Uhr 39 bis 2 Uhr 41 in einer Berufsschule in Reims.

Ja, dieser 7. Mai hatte es in der Tat in sich! Die Iden des März 1938 schienen auf Göring hereingebrochen zu sein, denn es war er, der den „Anschluss“ Österreichs als persönliches und erstes großes Anliegen der Außenpolitik betrachtete, viel Energie in die Vorbereitung dieses Coups steckte und schließlich den zögernden Hitler zu einer „Totallösung“ drängte, wie auch sein Biograf Alfred Kube dokumentiert. Die neue zwangsmobilisierte Gesellschaft des „Nichtmehr“ nach dem 8. Mai 1945 konnte weder er noch der Volkssturm aufhalten.

Zur Person
Hermann Strasser, geb. 1941 in Altenmarkt im Pongau (Österreich); studierte Nationalökonomie in Berlin und Innsbruck (Dr. rer. oec.), Soziologie an der Fordham University in New York (Ph.D.); Habilitation Universität Klagenfurt. Von Dezember 1977 bis Februar 2007 Professor für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen, seit März 2007 emeritiert.

(Mit-)Autor bzw. (Mit-)Herausgeber von rund 350 Aufsätzen in wiss. Zeitschriften und 32 Büchern, u. a.: The Normative Structure of Sociology (engl. 1976; port. 1978); Einführung in die Theorien des sozialen Wandels (dt. 1979; engl. 1981), Ende der Klassengesellschaft? (1990); Cocas Fluch (1994); Modern Germany (2000); Globalisierungswelten (2003); Das individualisierte Ich in der modernen Gesellschaft (2004); Woran glauben? (2007); Polizisten im Konflikt mit ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen (2008); Köpfe der Ruhr (2009), Hans Weber – Lebens(t)räume (2010, 3. Aufl. 2016), Gestatten, bestatten! Siebzehn nicht nur abwegige Kurzgeschichten (2012) und Die Erschaffung meiner Welt: Von der Sitzküche auf den Lehrstuhl. Autobiografie (3. Aufl. 2016).

Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, soziale Ungleichheit, sozialer Wandel; zuletzt Leiter der Forschungsgruppe Sozialkapital mit Projekten zum bürgerschaftlichen Engagement.